Meine Zeit als Kuh-Mama, war die schönste überhaupt in meinem Leben. Eine Zeit, an die ich mit einem weinenden und einem lachenden Auge zurück denke.

Ich habe habe zu der Zeit auf meinem zweiten Lehrbetrieb gearbeitet ( Mehr dazu unter -Ausbildung und Studium-).Eines Abends half ich einer rot-bunten Kuh, ihr Kalb auf die Welt zu holen. Der Größe nach war ich mir sicher, dass gleich ein rotes Bullenkalb zum Vorschein kommt, doch dann plumpste SIE vor meine Füße ins Stroh. Sie war wunderschön: lange Beine, tief rote Flecken, und ein großer nasser Kopf mit weißen Löckchen. Sie prustete aus ihrer blutverschmierten Nase und wackelte mit ihren großen, roten Ohren. Von dem Moment an hatte ich mich schon in dieses zuckersüße Geschöpf verliebt. Sofort ging mir der Name rote Zora durch den Kopf und als mein Chef mir dieses rote Kalb schenkte war sie „Meine rote Zora“.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich endlose Minuten lang bei ihr im nassen Stroh sitzen blieb mit Freudentränen in den Augen und mein Herz vor Freude tanzte als ich ihr klebriges Köpfchen kraulte. Nach einer ganzen Weile brachte ich sie dann in ihr frisch eingestreutes Iglu und gab ihr ihre erste Biestmilch zu trinken. Stolz wie Oskar kniete ich im Iglu und tränkte meine eigene kleine Kuh, ein Gefühl das ich nie in meinem Leben vergessen werde.

Nach diesem besonderen Abend war ich jeden Tag bei ihr. Ich tränkte sie, brachte ihr bei am Strick zu laufen und wenn es ihr schlecht ging übernachtete ich heimlich das ein und andere Mal bei ihr im Iglu, wo sie auf meinem Schoß einschlief wenn ich ihr ihre weißen Löckchen auf dem Kopf kraulte. Immer wenn ich zu den Kälbern kam reckte sie schon den Kopf zu mir heraus und wackelte mit ihren roten Ohren.

Als ich dann jedoch meine Ausbildung abbrach um mein Abitur nachzuholen (siehe Blogeintrag -Ausbildug und Studium-), sah ich sie erstmal eine ganze Weile nicht wieder. In dieser Zeit vermisste ich sie so unglaublich, ich hatte aber Angst zum Hof zu fahren und sie zu besuchen, da ich wusste,dass ich sie nicht behalten konnte wenn mein ehemaliger Chef seinen Betrieb aufgab. Ich holte ja mein Abi nach und wollte studieren und wir selber hatten/haben keinen Betrieb.
Ich dachte es wäre besser sie nicht mehr zu sehen und mir damit den Abschied leichter zu machen, denn der Gedanke, dass sie zu jemand anderem kommen sollte brach mir mein Herz.

Nach einer langen Zeit lud mich mein Chef dann zu seinem Geburtstag ein. Ich fuhr also das erste Mal nach meiner Kündigung wieder zu meinem ehemaligen Lehrbetrieb. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen einen Blick in den Stall zu werfen und ging mit klopfendem Herzen durch die Tür auf den Futtertisch zu. Ich hatte Angst, würde sie mich wiedererkennen? Und was, wenn sie es tat? Machte es das ganze nicht nur noch schlimmer? Ich ließ meine Blicke durch den Stall schweifen. Ein riesiger roter Kopf ragte zwischen den viel kleineren Rindern empor. Da stand sie! Sie war riesig geworden, doch ich erkannte sie sofort. Sie sah noch genau so aus wie meine kleine Zora. Mir war es egal, dass ich meine guten Schuhe und keine Arbeitssachen anhatte. Ich kletterte durch das Fressgitter hindurch und bahnte mir den Weg durch die Rinder zu Zora. Sie senkte neugierig den Kopf und trat vorsichtig näher. Sie wackelte mit ihren großen roten Ohren und schnupperte an mir. Dann kam sie noch näher und fing an, ihren riesigen Kopf an mir zu reiben und tänzelte um mich herum. Sie erkannte mich!! Ich brach in Freudentränen aus und schlang meine Arme um ihren breiten warmen Hals. Wie sehr hatte ich das vermisst: Kuhmist unter den Füßen, das ruhige Muhen der Tiere und das Klappern der Fressgitter in den Ohren. Kuhhaare und Staub auf meiner Kleidung und der Geruch von Silo, Gülle und Kuh in der Nase. Dies alles brachte mich komplett aus der Fassung. Hier war ein großer Teil von mir zurück geblieben, den ich unheimlich vermisst hatte. Ein Teil, der zu mir gehörte und mich unendlich glücklich und frei machte.

Nach diesem Tag fuhr ich wieder regelmäßig zum Betrieb. Ich half ab und zu mit und saß stundenlang bei Zora in der Box und kraulte ihre weißen Locken während sie ihren riesigen Kopf auf meinen Schoß legte und leise anfing zu schnarchen, genau so, wie sie es als Kalb gemacht hatte. Immer wenn ich in den Stall kam ragte sofort ein roter Kopf über den anderen Kühen empor der hektisch anfing zu wackeln und dann kam sie zu mir gerannt und drückte vorsichtig ihren Kopf gegen mich und ließ sich streicheln. Dieses Gefühl das ein so riesiges und schweres Geschöpf dir mit so viel Vertrauen und so vorsichtig begegnet ist einfach unschlagbar. Jedes mal, wenn es mir schlecht ging, egal wie spät es auch war, fuhr ich zum Hof und setzte mich zu ihr in den Stall und direkt ging es mir besser. Sie strahlte so eine Ruhe und Geborgenheit aus, dass ich nur ihren tiefen, ruhigen Atemzüge lauschen musste oder sie mich mit ihren wunderschönen, großen Augen ansehen musste und schon fühlte ich mich sicher und angekommen.

Das Glück schien noch vollkommener zu werden als sie dann trächtig wurde, doch drei Wochen vor dem Abkalbetermin passierte eines der schlimmsten Dinge die in meinem Leben passiert sind. Etwas, das mich tief getroffen hat und immer noch in tiefe Trauer versetzt.

Ich bekam eine Nachricht von meinem ehemaligen Chef, dass Zora auf der Weide liegt und nicht mehr aufstehen kann, weil sie sich das Bein gebrochen hat. Ich war gechockt und fuhr direkt zum Hof, doch mir war das ganze Ausmaß dieser Verletzung noch nicht bewusst. Ein gebrochenes Bein musste ja eigentlich wieder zu heilen sein. Als ich ankam lag sie auf der Wiese mit ihrem kugelrunden Bauch und versuchte immer wieder auszustehen wobei man die Knochen in ihrem Bein aufeinander knirschen hörte und sie ein qualvolles Geräusch von sich gab und wieder zusammenbrach. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so hilflos und verlassen gefühlt wie in diesem Moment. Als man mir erzählte, dass da „nichts mehr zu machen sei“ brach eine Welt für mich zusammen. Ich wollte sie nicht aufgeben und mein Gehirn versuchte nach irgendeiner Lösung zu suchen, doch es gab keine . Ihr Bein war direkt am Kniegelenk durchgebrochen, keiner wusste wie es passiert war und es gab keine Möglichkeit die hochschwangere Kuh irgendwie zu retten. „Wenn die nicht mehr aufstehen können bedeutet das das Ende“, dieser Satz schwirrte wie ein dunkles, leeres Omen durch meinen Kopf. Meine ganze Hoffnung klammerte sich an ihr Kalb. Drei ganze, endlose und qualvolle Tage musste sie dort Tag und Nacht auf dieser Wiese liegen weil die Tierärzte zu viele Termine hatten. Jeden Tag fuhr ich zum Hof und half bei der Arbeit, ich hielt es nicht aus den ganzen Tag neben ihr zu sitzen und zu sehen wie sie immer wieder versuchte aufzustehen.

Dann kam endlich der Tierarzt. Als er aus dem Van stieg holte er mit den Worten „Das hat keinen Zweck mehr“ direkt das Bolzengerät aus dem Kofferraum. Das friedliche Einschläfern war nicht möglich weil sonst das Kalb mit ihr sterben würde. Ich nahm ihren Kopf in die Hand und drückte meine Stirn gegen ihr warmes Fell. Ich schloss die Augen und die Tränen rannen in Strömen über meine Wangen „Ich hab dich sooo sooo lieb.“. Dann ging ich in den Stall und kauerte mich an die Wand und hielt mir die Ohren zu. Ich konnte es einfach nicht ertragen das mit an zu sehen. Nicht bei ihr!! Als er den Bolzen gesetzt hatte ging ich wieder nach Draußen. Da lag sie, zuckend und prustend auf dem Boden mit knirschenden Zähnen. Der Tierarzt war dabei sie der Länge nach aufzuschneiden um wenigstens das Kalb noch schnell zu retten. Er zog es aus ihr heraus und versuchte es mit allen Mitteln zum Atmen zu bekommen. Es war ein großer roter Bulle. Er sah genau so aus wie sie. Ich saß auf dem Boden neben dem kleinen Kerl und konnte nicht aufhören zu weinen. Er starb, es war einfach noch zu früh für ihn.Nach dem zweiten Bolzenschuss starb dann auch endlich Zora.

Ich weiß nicht mehr wie lange ich da noch auf der Wiese saß neben meiner toten Kuh und ihrem Kalb. Ich habe noch nie in meinem Leben jemals so um irgendetwas getrauert. Meine ganze Welt brach zusammen. Jedes mal wenn ich wieder Zuhause lag und es mir schlecht ging kam mir für einen kurzen Moment der Gedanke , dass es mir wieder besser geht wenn ich zu Zora in den Stall fahre, doch dann wurde mir bewusst warum es mir schlecht ging. Ich habe dieses Tier geliebt. Die Verbindung zwischen mir und meiner Kuh war die schönste und besonderste in meinem ganzen Leben. Sie hat mir so viel gelehrt und gegeben und ich werde diese Erfahrung für immer in meinem Herzen tragen.